[es folgt ein kurzer Text von Max Schwimmer, der derzeit meines Wissens nur in der Originalausgabe der Leipziger Zeitschrift Der Drache aus dem Jahr 1921 gedruckt vorliegt. Da die Zeitschrift nicht kopiert werden darf, habe ich ihn eigenhändig abgeschrieben. Schwimmer ist in Lindenau geboren, seine Eltern lebten dort. Mehr zu Max Schwimmer auf dieser Seite folgt (hoffentlich) bald, bis dahin: Kurze Biografie Max Schwimmers beim Lehmstedt-Verlag] Hier nochmal der Text in originaler Schriftart (in Fraktur)
Von Max Schwimmer
Lindenau – das muß ein Irrtum sein. Schlot an Schlot, er=
bärmlichster Vorort, aller Lieblichkeiten bar. Entsetzlicher
Gestank.
Die Armeleutegärten trauern und verkümmern unter den
Umarmungen chemischer Fabriken. Die jämmerlichen Höfe
der Häuserblocks, Aufenthalt der allzuvielen Kinder, sind
erfüllt von unerträglichen Gerüchen, die Färbereien und
Kürschnereien unbarmherzig ausatmen.
Kinder mit unwirklichen Augen, verbogenen Gliedern und
unförmigen Köpfen. Der Hunger guckt durch die schäbigen
Kleider. Husten schüttert die eingefallne Brust. Manchem
Kinde merkt man an, daß selbst das Tragen des Schulranzens
eine Zumutung ist. Abfallwässer und dürftige
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Anlagen um Bedürfnisanstalten herum sind köstliche Asyle für
Spiel und Lust, bis ein Schutzmann den Zauber zerknüllt.
Zwischen Häuserblocks eingeklemmte Karuselle sind überirdisches
Ausmaß des Sonntags.
Frauen, vom Gebären verbraucht, doch schon wieder schwanger,
ziehen mit ihren Kindern ins Freie, Kamillen pflücken, auf
wirkliche Wiesen. O Ihr Wiesen der Vorstadt! Flächen mit Müll
und Unrat überladen, arg versandet, und dazwischen hartes
Gras, Kamillen und winziger Klee. Hier lungern die Arbeitslosen
Lindenaus. Billige Zigaretten und kleine Mädchen, krüll frisiert,
sind ihre Seligkeiten. Sorglos wälzen sich Liebes=
tolle hinter irgendeinem mageren Gestrüpp. Passanten nehmen
kaum Anteil.
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Fabrikschluß. Wie aus unheimlichen Schläuchen strömen Menschen
aus dunklen Fabriktoren. Zermergelte Arbeiter, verhärmte Frauen und
Mädchen, zerknüllte Leiber und verätzte Hände. Die langweiligen Fabrik=
straßen prägen sich für kurze Zeit zu großen Armeestraßen, mit jenem
unentwirrbaren Durcheinander, um. Die Menschen scheinen wahllos
durcheinander zu schreiten und zu fallen, und doch kristallisiert sich
nach und nach die Klarheit dieser Situation aus dem scheinbaren Chaos.
Einmal unwirkliches Erlebnis in der Angerstraße. Von Feierabend kommen
die Arbeiterinnen aus dem Tore einer chemischen Fabrik. Die Gesichter
und Hände noch angegriffen von der Arbeit vorher. Und doch gehen diese
einfachen Mädchen wie Heilige, jede eine Lilie in den Händen, unirdisches
Geleucht in den Augen.
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Die Revolutionstage geben dir ein Gesicht, Lindenau, verachtetster aller
Vororte. Dann ist ein Drohen und Unheimlichsein in deinen trostlosen
Straßen. Der Trott deiner Proleten rhythmisiert sich heroisiert; liebäugeln
mit Gewehren und Handgranate. Straßen werden aufgerissen, Straßenbahnen
umgeworfen, Planken und Gatter sind nützlich zur Barrikade. In den grauen
Tag weht eine schmutzig=rote Fahne.
Mondnächte in Lindenau, süßer Kitsch. Alle Haustüren sind gefüllt. Hinschlendern
der Verliebten an Planken und Gattern, dort wo sich die Mietskasernen in trostlose
Felder verlaufen, und am Kanal lümmeln sich Männerbündler.
Aus der Kammer der einsamen Alma Müller fällt ein Lied auf die mondselige Straße:
Und mein Liebster, der geht stempeln,
Weil er keine Arbeit hat.
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